Der Begriff Bibliotherapie – auch Lesetherapie- genannt kommt aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie eine „Heilung durch das Buch“: Durch Lesen. Das Wissen um die heilende Kraft der Literatur ist alt und in der Religion begründet. Schon in vorgeschichtlicher Zeit wurden Gebet, Gesang und Dichtung von Schamanen und Medizinmännern als Heilmittel eingesetzt.
Die religiösen Schriften der verschiedenen Kulturen enthalten zahlreiche Texte, die bis heute eine rat gebende und heilende Funktion erhalten. Nachweisliche reichen die Wurzeln der Bibliotherapie bis ins alte Ägypten zurück. Und über der weltberühmten Bibliothek von Alexandria, der größten der antiken Welt, stand „psyches iatreion“, Heilstätte der Seele.
In der jüdisch-christlichen Überlieferung ist die Bibel mit ihrer Gesetzestradition und den Psalmen, das Therapeutikum par excellence. Die jüdische Journalistin Alice Schwarz-Gardos hat an zahlreichen Beispielen eindrucksvoll aufgezeigt, wie die Juden in Krisensituationen des Lebens „lesend überlebten“. Diesen Grundgedanken finden wir auch bei den Aussprüchen der alten Mönchsväter, den „Therapeuten der Wüste“ oder in der Lebensgeschichte des heiligen Augustinus, der in seinen Bekenntnissen die abgrundtiefe Depression offenbart, in die er geraten war und dann der Weisung folgte: „Nimm und lies“, und wie dieses „Heilmittel der Seele“ daraufhin die Verzweiflung aus seinem Herzen verbannte. Aber auch Martin Luther wusste um den Segen des Wortes. Davon zeugen auch die Stundenbücher des christlichen Mittelalters und viele Beispiele der sogenannten Erbauungsliteratur.
Aber nicht nur das Juden- und Christentum vertrauen auf das „Buch als Medikament“. In der traditionellen hinduistischen Medizin wird noch heute dem Kranken ein sich auf sein Problem beziehendes Märchen zur Meditation verordnet. Und im Islam werden zum Beispiel noch heute tägliche Koranlesungen an dem Al-Mansur-Hospital in Kairo gehalten, die von bibliotherapeutischer Praxis zeugen.
In Deutschland geriet die Bibliotherapie nach dem 30jährigen Krieg in Vergessenheit. Wissenschaftlich fundiert wurde die Lesetherapie erst im 19. Jahrhundert in den USA.
Heilende Kraft des Wortes
Im Jahr 1800 setzte Benjamin Rush systematisch Bücher zur Behandlung psychisch Kranker ein. Die „heilende Kraft des Wortes“ hatte einen nachhaltigen Erfolg. 1846 schrieb der Amerikaner Minson Gaalt den ersten wissenschaftlichen Artikel über die Bibliotherapie. Zur selben Zeit vertrat in Deutschland Maximillian Jacobi die Ansicht, das gut ausgestattete Bibliotheken – und eine damit erst mögliche Bibliotherapie – von unschätzbarem Wert für die Förderung und Unterhaltung der Patienten seien, mit dem Erfolg, dass die ersten Krankenhaus- Bibliotheken entstanden. Doch das war auch alles, und bis heut ist es noch lange nicht selbstverständlich, das jede Klinik eine Patientenbibliothek hat. Während in Amerika die Forschungen über die Lesetherapie vorangetrieben wurden und diese heute dort eine anerkannte Behandlungsmethode ist, wurde Deutschland vergleichsweise zu einem Entwicklungsland. Allerdings ist zu bemerken: die einstige DDR hatte die Bibliotherapie verbindlich in ihren Krankenhausrichtlinien festgeschrieben.
Das Kümmerdasein der Lesetherapie begann sich hierzulande erst in den letzten 20 Jahren zu ändern. Die Entdeckung des Immunsystems und wissenschaftliche Untersuchungen darüber, wie sehr die seelische Verfassung des Menschen seine Gesundheit beeinflusst, ließen die Lesetherapie wieder ins Gespräch kommen. Besonders die Frage: wie ist es überhaupt möglich, dass ein bedrucktes Stück Papier Einstellungen ändern, Verkrampfungen lösen, Gefühle korrigieren und damit auch körperliche Leiden abbauen, lindern und in manchen Fällen auch heilen kann?
Begann die Wissenschaftler zu interessieren.
Lesen und Lachen
Anlass hierzu gab die aufsehenerregende Krankengeschichte von Norman Cousins, dem einstigen Chefredakteur der Zeitschrift Saturday Review, die mittlerweile als beliebtestes Beispiel in die Psycho-Neuro-Immunologie eingegangen ist. Cousins wurde mit einer Spondylitis ankylosans (= chronisch-entzündliche Erkrankung der Wirbelsäule) ins Krankenhaus eingeliefert. Trotz hoher Medikation wurde die Krankheit nicht besser, sondern immer schlimmer und vor allem immer schmerzhafter. Am Ende seiner Kräfte kam Norman Cousins zu der Erkenntnis: Wenn negative Gefühle negative Veränderungen im Körper erzeugen, können dann nicht positive Gefühle auch positive Veränderungen bewirken? Und ohne etwas von Psycho-Neuro-Immunologie zu wissen, wählte der Schwerkranke das Lachen als stärkstes Mittel zur positiven Veränderung der Gefühle. Er ließ sich alles an Literatur, an Hörkassetten und Filmen bringen, was ihn erheiterte und zum Lachen brachte. Schon bald bemerkte Norman Cousins die Wirkung: „Zehn Minuten echten, tiefen Lachens hatten eine schmerzlindernde Wirkung und ermöglichten mir zwei Stunden Schlaf ohne Schmerzen“. Zur Kontrolle dieser Humor-Therapie wurde die Blutkörperchen-Senkungsgeschwindigkeit (BKS) herangezogen; sie dient unter anderem als ein Maßstab für die Schwere einer Entzündung. „Wir stellten fest, dass sie nach jeder Konsumierung heiterer Literatur oder Filme um mindestens fünf Punkte gesunken war. Das war zwar kein wesentlicher Rückgang, aber er hielt an und verstärkte sich. Über Monate und Jahre verbesserte sich der Zustand des Patienten allmählich. Schließlich empfand er kaum noch Schmerzen und konnte seinen Beruf wieder aufnehmen. Aus seiner positiven Erfahrung heraus wurde Norman Cousins zu einem unermüdlichen Propagandisten der Psycho-Neuro-Immunologie. Er wurde Honorarprofessor an der „University of California“ und Mitherausgeber einer medizinischen Zeitschrift. Seitdem wurde in vielen Studien nachgewiesen, dass die Kraft der Fröhlichkeit, die sich im Lachen zeigt, auch im Körper in der Reaktion des Immunsystems nachweisbar ist. Wer herzhaft lacht, dessen Körper besitzt beispielsweise mehr Antikörper vom Immunglobulin A. Das Immunsystem reagiert messbar auf das Gefühl der Fröhlichkeit, was bedeutet: Ein Menschkann sich weder krank- noch tot-, aber er kann sich gesundlachen.
Lesen verleiht Flügel
Aber nicht nur Hören, Sehen und Lesen von Lustigem stärkt unser Immunsystem und mobilisiert die Selbstheilungskraft in uns. Auch im Weinen liegt Heilsames und Befreiendes und im Leiden mit dem Helden die Erfahrung der eigenen Gefühlswelt. So kann Lesen zur Einsicht führen und neue Wege eröffnen. Denn Lesen ist entdecken, erforschen und lernen, ist Leben auf eine intellektuelle Art, die zur Selbstreflexion anregt, ist Stärkung des Selbstbewusstseins im Erkennen der eigenen Fähigkeit. Lesen heißt aufbewahren, sich zu erinnern, die zeitlichen Dimensionen zu sprengen, das karge Bild der Buchstabenwüste im Innern zu phantasievollen Oasen umzugestalten, sich zu identifizieren mit dem Helden oder Heldin des Geschehens und endlich einmal frei und so zu sein, wie man es sich doch immer wünscht. Lesen, das ist der Zauber, der der Seele die Flügel verleiht, die sie sicher durch Berg und Tal des Guten wie des Bösen tragen, die sie nicht untergehen lassen in der Flut der Tränen und die den Absturz ins Unglück verhindern. Wer liest, schafft sich eine eigene Welt, akzeptiert eigene Maßstäbe, lernt unbekannte Probleme und deren Lösungen, kann seine eigenen Schwierigkeiten durch die Sicht anderer verarbeiten, erfährt von Freud und Leid und merkt, dass außer ihm noch andere Lebewesen Hilfe brauchen oder geben. Der Lesende kann diese Erfahrungen durch eigene Bereitschaft, die nicht von außen erzwungen oder verlangt wird, in die Wirklichkeit transportieren wann immer er will, und das alles in Stille und ohne Leistungsstress. Lesen, ist für die Seele eine Ruhezone, kann Ablenkung von eigenen Problemen sein, aber auch Hilfestellung für eine Lösung.
Lesen die anspruchsvollste Gehirntätigkeit
Der innere Prozess, der beim Lesen freigesetzt wird, fordert genauso den ganzen Menschen, wie auch die Auswirkungen des Lachens im Labor nachweisbar sind. Und die moderne Hirnforschung ist zu dem Ergebnis gekommen, dass Lesen „die Anspruchsvollste Gehirntätigkeit“ überhaupt ist. Wer Krankheiten ausheilen will, der sollte Therapien entwickeln, die nicht nur den Körper betreffen, sondern auch die Seele und Geist mit einbeziehen Und dazu kann die Bibliotherapie ihren Beitrag leisten. Dabei ist wichtig festzuhalten, dass Lesetherapie an sachgemäße Vermittlung gebunden ist. Oder anders gesagt: Welcher Text hilft wann und wo? Nicht unbedingt geeignet ist hier die sogenannte „Ratgeberliteratur“ von der Art „Wie beseitige ich meine Pickel?“ Bei der therapeutischen Literatur geht es stets um die Aufarbeitung innerer Probleme. Da aber die meisten Krankheitssituationen auch immer seelische Ursachen haben, ist die Lesetherapie nicht nur auf Patienten mit Angst-und Panikattacken, Neurosen, sexuellen oder psychosomatischen Störungen zu beschränken. Denn Bibliotherapie ist wie die Musik-, Tanz-, Kunst,- oder Maltherapie eine kreative Behandlungsform und lässt sich bei fast allen Erkrankungen erfolgreich einsetzen.
Die österreichische Psychotherapeutin Elisabeth Lukas schreibt in ihrem Buch „Psychologische Seelsorge“ „Krankmachende, seelische Verwicklungen treten nicht plötzlich auf. Sie haben eine Vorgeschichte, in der sich falsche Lebenseinstellungen langsam heraus bilden. Die Menschen merken das oft selber und sprechen Verwandte, Freunde, Seelsorger um Rat an. Sie sind dann noch fähig, etwas zu ändern, wenn ihnen Einsicht in die Ursache ihrer Fehlentwicklung vermittelt wird. Einem Laienberater gelingt das nur selten, da er keine psychologische Schulung hat. Geeignete Bücher aber können Einsichten vermitteln. Und so könnte hier das Buch als Therapeutikum im Vorfeld seelischer Erkrankungen seinen Platz finden.“
Erfahrung und Hilfe
Bibliotherapie als Therapiebegleitung kann bei schwer erkrankten Patienten eine wichtige Hilfe sein. Sie kann selbstverständlich die medikamentöse Behandlung nicht ersetzen, aber sie kann dem Kranken helfen ein neues Verhältnis zu sich selbst aufzubauen. Wer beispielsweise erfährt, dass seine Behinderung unheilbar ist, könnte zum Beispiel aus den Erinnerungen der taubstummen und blinden Helen Keller Mut schöpfen. Literatur im Krankenhaus ist hier nicht nur ein Zerstreuungsmittel sondern kann in der Hand eines geschulten Bibliotherapeuten vor allem bei Langzeitbehandlungen zu einem gezielt eingesetzten Heilmittel werden.
Für einen solchen Einsatz sind leider die meisten Kräfte nicht geschult. Der Krankenhaus-Bibliotherapeut braucht Seelen- und Literaturkenntnisse. Das kann man sich nicht allein so nebenher beibringen. Erfahrungsgruppen, Fortbildungsangebote, Fachliteratur sind notwendig, vor allem aber die Einsicht, dass das Mitgehen des Patienten eine wesentliche Voraussetzung für den Gesundungsprozess ist. Und dass das Mitmachen der Patienten gegeben ist, weiß man aus einer amerikanischen Studie, die die Wirkung der Lesetherapie an 13 bedeutenden amerikanischen Kliniken wissenschaftlich untersucht hat. „Einige der Patienten fühlten sich durch die Lesetherapie so zu Büchern hingezogen, dass sie den Beruf des Bibliothekars oder Buchhändlers nach ihrer Genesung ergriffen haben. Die anderen Patienten lasen sehr bewusst und mit innerer Konzentration da sie erkannt hatten, wie dieses Lesen ihrer Gesundheit förderlich war.
Hedda Schatz
Bild: Eberhard Gravenstein,
Peter Hirth / Frankfurter Buchmesse