Victor Hugo

Im aktuellen Jahr 2002 hätte der große französische Romancier Hugo seinen 200.Geburtstag feiern können (26.Februar). Die französische Literatur, vor allem aber auch die beiden Kanalinseln gaben dazu eine Festveranstaltung nach der anderen. 200 Jahre Victor Hugo – ob in Besancon/Frankreich, seinem Geburtsort, ob in Paris, in Brüssel, seinem ersten Exil, ob auf Jersey oder eben Guernsey – Victor Hugo war und ist allgegenwärtig. Und reisefreudige Literatur-Freunde kommen dabei auf ihre Kosten. Haben doch die Touristikbüros allerorts eine Fülle von Informations-, Besichtigungs- und Erlebnis-Programmen zusammengestellt. Und ganz ehrlich: Auf den Spuren dieses eigenwilligen Monsieur zu wandeln, hat schon etwas Besonderes. LITERAKUR hat sich auf den Kanalinseln umgesehen und bietet mit dem Literatur-Hinweis zugleich eine touristische Empfehlung an.

Den politischen stark engagierten Franzosen Hugo hatte es 1851 außer Landes ins Exil getrieben. Er floh vor der Verhaftung zuerst nach Belgien, dann nach Jersey, wo er drei Jahre lebte, dann nach Guernsey, wo er sich 15 Jahre wohl fühlte. Wenn auch immer mit ungebrochener Sehnsucht nach Frankreich, seinem geliebten Heimatland. Aber er konnte so schnell nicht dorthin zurück, hatte er doch Bonaparte Napoleon nicht nur heftig kritisiert, sondern zugleich beißendem Spott ausgesetzt: „….haben wir einst Napoleon den Großen gehabt, müssen wir uns jetzt mit Napoleon dem Kleinen abfinden…“ schrieb er. Victor Hugo nämlich hatte sich vom einst glühenden Monarchisten zum überzeugten Republikaner gewandelt und in seinen Veröffentlichungen kein Blatt vor den Mund genommen.

Seine Ankunft 1852 im Hafen von St.Helier in Jersey sorgte damals für einiges Aufsehen, kannte man doch seine Werke und sein politisches Engagement. So kam eine große Menschenmenge zusammen, um ihn mit Begeisterung zu empfangen. Was für Monsieur Hugo wie Balsam für die angeschlagene Seele wirkte und ihn ermutigte, die Sache der Republikaner mit Vehemenz weiter zu verfolgen. In der Zeitung „L’Homme“ agierte er zusammen mit anderen Exilanten gegen den verhaßten Kaiser in Paris.

Als sich dann Napoleon III. und Queen Victor und Queen Victoria im Krimkrieg 1854 noch verbündeten, weitete Hugo seine Angriffe auch auf das englische Königshaus aus. Sehr zum Ärger der sehr royalistisch ausgerichteten Führungsschicht auf Jersey. Es kam zu seiner Ausweisung von Jersey. Er floh nach Guernsey, wo man ihn mit offenen Armen aufnahm.

Dazu muß man wissen, dass sowohl Jersey als auch Guernsey ehemals zur selbständigen Normandie gehörten, unter der Herrschaft von König Williams (dem Eroberer) jedoch an England fielen. Als Frankreich schließlich die Normandie von König John zurückeroberte, entschieden sich die Inseln zur Loyalität gegenüber der englischen Krone und wurden dafür mit Selbständigkeit belohnt.  – So war schließlich diese heute faszinierende anglo-normannische Kultur entstanden, von der die Bevölkerung Guernseys noch immer geprägt ist. Deutlich zeigt sich diese Sonderheit beim Patois, dem lokalen Inseldialekt, der von einigen Bewohnern noch heute gesprochen wird.

Die Kanalinseln haben ihre eigene Regierung (aber keine politischen Parteien !), eine eigene Verwaltung, eine eigene Post, eigene Briefmarken und eigenes Geld. Alles nur gültig auf den Inseln. Wer z.B. Guernsey als Tourist wieder verläßt, sollte seine Guernsey-Pfund noch auf der Insel wieder in englische Pfund umtauschen, was problemlos geschieht. Euros sind dort nicht gefragt.

Diese Unabhängigkeit erleichterte seinerzeit auch dem Asylanten Victor Hugo das Leben. Und er genoß es in vollen Zügen. Ganz auf seine exzentrische Art. Heute spricht man auf Guernsey stolz von Victor Hugo als dem bislang prominentesten Bewohner überhaupt. Denn während seine Spuren auf Jersey bescheiden blieben, hinterließ er auf der Schwesterinsel mit seinem „Hauteville-House“ und einem wuchtigen Monument in Candie Gardens ein eindrucksvolles Erbe.

Das dreigeschossige Haus in der Hauptstadt St.Peter Port, mit herrlichem Blick über den Hafen, wirkt heute wie damals wie ein „verwunschenes“ Haus. Hugo hatte es komplett nach eigenen Vorstellungen einrichten lassen. Mit dunklen, wuchtigen Holzmöbeln und verwirrend vielen, verschnörkelten Schnitzereien. Hugo hatte die Materialien von überall (auch aus Belgien und den Niederlanden) zusammentragen lassen. Alte Stühle, Bänke, Schränke ließ er auseinandernehmen und nach sehr persönlichen Vorstellungen wieder zu eigenen Möbeln zusammensetzen oder Wände und Decken im Haus damit dekorieren. Der Schrank in einem seiner Salons wurde z.B. aus alten Koffern gezimmert, die zu jener Zeit noch aus edlem Holz bestanden.

Dadurch wirkt das Haus insgesamt dunkel und geheimnisvoll. Die Extravaganz des Literaten verfolgt den Besucher auf Schritt und Tritt in jeder Etage. Dazu wimmelt es im Haus von versteckten Spiegeln, als habe Hugo jeden Winkel seines Hause unter Beobachtung haben wollen.

Am freundlichsten wirkt noch sein lichtdurchfluteter Wintergarten, in dem sich Hugo und seine Frau – wenn sie mal da war – am liebsten aufhielten. Am bedeutendsten jedoch ist sein „lookout point“, seine „Schreibstube“ in der obersten Etage. Von Glaswänden umgeben stand er am Schreibpult, blickte auf den Hafen von Guernsey und glaubte, jenseits der vorgelagerten Inseln Herm, Sark und Alderney die Konturen von Frankreich erkennen zu können. Hier schrieb er bedeutende Werke wie etwa die Ode an William Shakespeare, außerdem „Les Chansons des rues et des boies“ und „Les Travailleurs de la mer“. Hier unter der Glaskuppel seines Hauteville Houses vollendete er auch den Roman „Les Misérables“. Der Arbeitsraum ist heute fast unverändert und kann besichtigt werden.

Man kann auch sein höchst imposantes, aus 25 verschiedenen Möbelstücken zusammengesetztes, schweres Eichenholz- Bett bewundern. Nur hat er es kaum benutzt. Eher schon sein Gast Alexander Dumas. Hugo schlief angeblich vorwiegend auf einer Matratze unter dem Dach, um seiner Geliebten – ein paar Häuser weiter – nahe sein zu können. Die nämlich bewohnte schräg gegenüber ein Dachgeschoß. Und Hugo, so erzählt man sich, hing morgens ein Tuch aus dem Fenster, um seiner Juliette den eigenen, aktuellen Gemütszustand zu signalisieren. Zumeist verkündete er damit: „Habe gut geschlafen und bin guter Dinge…“ Er besuchte seine Geliebte nahezu täglich.

Victor Hugo war verheiratet, hatte mit Ehefrau Adele, Tochter eines Generals der französischen Armee, fünf Kinder. Doch Adele lebte häufig monatelang fern ihres Mannes, sie vermißte das Gesellschaftsleben von Paris und brauchte Freiraum für ihre „eigene Liebe“ mit Leutnant Pinson. Deshalb auch ließ sie Victors Beziehung zu einer anderen Frau überhaupt nur zu. Was dieser weidlich nutzte. Fast 50 Jahre begleitete Juliette „ihren“ Victor. Sie war seine ganz große Liebe, auch wenn er sie das nicht besonders spüren ließ. So gibt es im Hauteville House auch kein einziges Bild von ihr. Keiner ihrer über 16.000 Liebesbriefe ist zu sehen, zwei Briefe soll sie ihm täglich geschrieben haben. Und die Öffentlichkeit zerriß sich das Maul über diese „ménage à trois“ . Anwohner und Touristen legten sich mit Ferngläsern bewaffnet auf die Lauer, um einen Blick von ihm (und/ oder auch ihr) zu erhaschen, wenn er – zumeist unbekleidet – von den Klippen ins Meer sprang oder mit Juliette einen seiner ausgedehnten „Denkergänge“ unternahm. Hugo war als Mitglied der französischen Akademie und Literat von Weltruf eben schon zu seiner Zeit der interessanteste „Promi“ auf der Insel.

Das Hauteville House ist mitsamt seiner Ausstattung im Originalzustand erhalten und kann von April bis September auf einer spannenden Tour besichtigt werden. Neuerdings auch der Garten hinter dem Haus. Darin steht unverändert im Mittelpunkt eine große Eiche, die Victor Hugo dort am 14.Juli 1870 mit dem Wunsch pflanzte, dass, wenn dieser Baum einmal „erwachsen“ wäre, auch die „Vereinigten Staaten von Europa“ Wirklichkeit geworden sind. Hugo nämlich fühlte sich schon damals als über überzeugter Europäer

Victor Hugo liebte die Natur und die Atmosphäre der idyllischen Inselwelt über alles. In seinen Träumen von der eigentlichen Heimat tröstete er sich mit der Formulierung: „Die Kanalinseln sind ein Stück Frankreich, das ins Meer gefallen ist und von England wieder aufgesammelt wurde“. Damit zugleich beschrieb er liebevoll die geografisch wie politisch komplizierte Lage „seiner“ Inseln.

Er wanderte viel über die Klippen, saß gedankenverloren auf großen Felsbrocken, genoß die herrliche Aussicht auf das Meer und ließ sich inspirieren. Seine Geschichte von „Die Arbeiter des Meeres“ spielt sogar auf Guernsey. Er widmete sie der Insel mit den Worten „Guernsey verkörpert weitaus mehr den wahren europäischen Geist als die imperialistischen Mächte auf der gegenüberliegenden Seite des Meeres. Guernsey ist ein Fels der Gastfreundschaft und Freiheit, der Winkel des alten normannischen Landes, in dem das edle Volk des Meeres lebt…“

Durch Verfilmungen und Musical-Inszenierungen seiner schönsten Werke wurde Victor Hugo in diesem Jahrhundert auch für weniger Belesene ein Begriff. Das von der Stella AG kreierte und vor Jahren in Berlin präsentierte Musical „Disney’s Der Glöckner von Notre Dames“ ist eines der populären Beispiel dafür.
Eberhard Gravenstein

Fotos: Gravenstein; visitguernsey.