Hermann Hesse: „Wanderung“

Alle reden von Kostendämpfung im Gesundheitswesen. Ich möchte dazu einen Vorschlag machen. Einen Vorschlag, bei dem ich im voraus weiß, dass die Politiker aller Parteien gequält aufschreien werden. Sie werden nämlich bei meinem Vorschlag nur neue Kosten auf sich zukommen sehen. Aber ich mache meinen Vorschlag trotzdem. Ich schlage vor, dass Ärzte bei manchen Krankheiten ein Buch verschreiben, so wie sie sonst ein Medikament verordnen, und dass es Bücher in der Apotheke auf Rezept und Krankenschein gibt. Natürlich denke ich dabei nicht an jedes beliebige Buch. Aber es gibt Bücher, von denen sich sagen lässt: Wer dieses Buch liest und danach tut, dem ist geholfen. Sie oder er kann auf etliche Tropfen und Tabletten verzichten.
Ja, es gibt sie wirklich, Bücher, die gesund machen. Freilich sind sie außerordentlich selten, vielleicht ist unter tausend Büchern gerade eines, das die Heilkraft einer guten Medizin hat. Aber da es Millionen Bücher gibt, bleibt dann immer noch eine stattliche Anzahl von Büchern und Geschichten, die einen Menschen gesund machen können oder wenigstens etwas dazu beitragen. Eines davon möchte ich Ihnen heute „verschreiben“:
Hermann Hesses „Wanderung“.
Anwendung und Dosierung
Es ist kein dickes Buch. In der handelsüblichen Ausgabe in der Bibliothek Suhrkamp hat es gerade 129 Seiten. Davon sind einige gar nicht bedruckt. Andere sind bemalt: Der Autor hat sein Werk mit winzigen selbst gemalten Aquarellen geschmückt.
Zu einer anständigen Verschreibung gehört eine kluge Dosierung. Sie sollten das Buch sehr langsam lesen, sozusagen in kleinen Schlucken. Am besten lesen Sie von den 13 Kapitelchen täglich nur eines. Das Buch hat dann gerade den richtigen Umfang für einen Zwei-Wochen-Urlaub.
Und Sie sollten das Buch laut lesen. Vielleicht haben Sie ja jemanden, der es Ihnen vorliest oder dem Sie es vorlesen können. Hermann Hesses wunderschöne Sprache ist es wert, dass wir sie wirklich vernehmen. Die Heilkraft liegt im Klang!
Und Sie müssen natürlich tun, was Hermann Hesse sagt, müssen es ‚ „umsetzen“, wie das auf Neudeutsch heißt. Wandern. Aber vielleicht spüren Sie keine Lust oder, falls Sie zur jungen Generation gehören, haben Sie keinen Bock. Sie heißen auch nicht Müller und sind es auch nicht, und also ist es auch nicht Ihre Lust. Aber wenn Ihnen die Lust abgeht, gerade dann sollten Sie Hesses Buch lesen. Das Buch hat einen ganz eigenen Charme, eine Zauberkraft, die Ihnen – im wahrsten Sinn des Wortes – Beine machen kann. Und: Sie können von Hermann Hesse lernen, wie Wandern Freude machen kann.
Was der Dichter unter „Wandern“ versteht, ist offenbar nicht ein schweißtreibender Leistungssport. Mich erinnert es an das schöne alte deutsche Wort „lustwandeln“. Dieses eigentlich ja längst ausgestorbene Wort unserer deutschen Sprache würde ich gerne zu neuem Leben erwecken. Die Alten bezeichneten damit eine Bewegung, die nicht irgendwelchen Zecken dient. Sie ist nicht den Besorgungen gewidmet, die uns unsere Sorgen aufzwingen. Nicht einmal die Gesundheit ist des Wanderns Zweck. Beim Gehen geht es um die pure Lust. Ja, es geht sich gut, es geht uns gut, wenn wir das Land der Nützlichkeiten verlassen und uns jenseits aller Pflichten bewegen. Über Hesses Buch liegt eine heitere Grundstimmung, die selbst da nicht ganz verloren geht, wo der Wanderer uns von verdrießlichen Erfahrungen und melancholischen Stimmungen erzählt.
„…lächeln mit der Seele…“
Weiter: Von Hermann Hesse kann man lernen, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen. Beobachtungen machen. Ach, die Welt ist bei weitem nicht so langweilig, wie wir vielleicht manchmal denken. Nein, die Welt ist nie langweilig, nur einige einfallslose Zeitgenossen sind es. Freilich: Der Dichter Hermann Hesse ist offenbar immer allein unterwegs. Das ist nicht jederfraus oder jedermanns Ding. Aber man kann es lernen und man macht bald die Erfahrung, dass Schweigen eine Wohltat sein kann, die unsere gestresste Seele aufatmen lässt. Noch ein Geheimnis erfährt der aufmerksame Leser: Hesse ist nicht mit schwerem Gepäck unterwegs. Was er braucht, fasst ein kleiner Rucksack: Vorrat für eine einfache Mahlzeit, Brot und Wurst, Nüsse und Schokolade.
Wer Hermann Hesse nachwandert, wird bald mit dem Dichter sagen können: „Ich lächle mit der Seele, mit den Augen, mit der ganzen Haut, und ich biete dem heraufduftenden Lande andere Sinne entgegen als einstmals, feinere, stillere, schärfere, geübtere, auch dankbarere (Seite 21). Und das ist doch wohl ein Beweis von Gesundheit, oder, um es einwenig vorsichtiger zu sagen, ein Zeichen von beginnender Gesundung. Wenn unsere Seele zu lächeln beginnt, wenn der permanente Überernst und die zwanghafte Spaßmentalität uns endlich einmal freigeben – was kann uns Besseres geschehen?
Ein Weg zum Nachlesen und Nachwandern
Den Weg über den Alpenkamm, den Hesse im ersten Kapitel seines Buches beschreibt, kann man tatsächlich gehen. Heute ist er ein Teil des Fernwanderweges Flensburg-Genua (EFW 1), der mit einem weißen Andreaskreuz markiert ist. Auf diesem Weg, der über den Gotthard-Pass aus der deutschen in die italienische Schweiz führt, kann auch ein Ungeübter den überraschenden Wechsel von deutscher Kultur und Lebensart zu italienisch geprägten Tessiner Landschaft erleben. Der Weg ist gut beschrieben in dem Buch „Europäischer Fernwanderweg, Flensburg – Genua“, J. Fink Verlag, Stuttgart. Hier findet man auf Seite 109 eine nützliche Übersichtsskizze der Wegführung vom Vierwaldstätter See ins Ticinotal und auf Seite 110 eine knappe, aber ausreichende Wegbeschreibung.
Die anderen Kapitel des Buches beziehen sich auf Wanderungen im Tessin, ohne dass jedes Mal ganz deutlich ist, von welchem Weg der Dichter gerade spricht. Das Tessin ist reich an reizvollen Wanderwegen, und die Erfahrungen, von denen Hermann Hesse erzählt, lassen sich eigentlich überall machen. Freilich darf dabei nicht verschwiegen werden, dass Hesse seine Wanderungen in einer Zeit unternommen hat, die nun schon einige Jahrzehnte zurückliegt. Wer heute durch das Tessin reist, wird die Landschaft viel dichter besiedelt vorfinden. Die großen Verkehrsadern, die das Land durchziehen, zerreißen die Landschaft und bringen Lärm und Schmutz mit sich. Aber es gibt sozusagen zwei „Tessine“. Das eine ist die Landschaft, wie sie derjenige erlebt, der mit dem Auto durchs Tessin fährt. Da ist von dem, was Hesse erzählt, so gut wie nichts zu sehen und zu erleben.
Ganz anders aber stellt sich auch heute das Tessin dar, wenn man die großen Straßen meidet und den alten Wegen folgt, zum Beispiel der „Strada alta“, die hoch über der Gotthardautobahn verläuft und durch malerische alte Bergdörfer führt, auch sie ist Teil des erwähnten Fernwanderweges. Aber vielleicht ist gerade das an der Hesse-Landschaft – so weit sie noch erhalten ist – so reizvoll: den, der Entdeckungen machen möchte, lockt sie immer aufs neue, und die geduldigen Wanderer und Wanderinnen wird sie allemal reich belohnen.

Reinhard Deichgräber

Hermann Hesse
Am 2. Juli 1877 wurde Hermann Hesse in dem Schwarzwald Städtchen Calw geboren. Seine Eltern, die in Indien als Missionare tätig waren, bestimmten ihn zur theologischen Laufbahn. Hesse ging auch auf das ev.-theol. Seminar in Maulbronn, dann aber brach er das Studium ab. Von 1895 bis 1898 schloss Hermann Hesse eine Buchhändlerlehre ab und publizierte kurz darauf sein erstes Buch. Der Erfolg eines Buches „Peter Camenzind“ 1904 ermöglichte ihm das Leben als freier Schriftsteller. 1911 reiste er nach Indien, den 1. Weltkrieg überlebte er in der Schweiz und erwarb hier 1923 die Staatsbürgerschaft. Seine wohl bekanntesten Werke sind „Siddhartha“, „Narziss und Goldmund“, „Der Steppenwolf“ und sein Alterswerk „Das Glasperlenspiel“. 1946 erhielt er den Nobelpreis für Literatur. Hesse war dreimal verheiratet. Er starb am 09.08.1962 in Montagnola im Tessin.
In Lugano – Montagnola sollte man sich nicht das Hermann Hesse Museum entgehen lassen. Hier ist man auch jedem behilflich, der auf den Spuren Hermann Hesses wandern will. So beginnt z.B. eine von dem Hermann Hesse Museum in Montagnola geleitete Rundwanderung in Casa Rossa in Montagnola und endet am Grab Hesses auf dem Friedhof S. Abbondio in Gentilino.
Weitere Infos:
Hermann Hesse Museum
Torre Camuzzui
6926 Lugano – Montagnola
Tel. 091 993 37 70/71
Fax 091 993 37 72
hesse.museo@ticino.com
www.hessemontagnola.ch

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