Pilgern nach Santiago de Compostela: Auf dem Weg zum eigenen Ich

Seit dem 9. Jahrhundert bis in unsere heutige Zeit reißt der Strom der Wanderer nicht ab. Von überall in Europa machen sich Pilger und Wanderer auf den Weg nach Santiago de Compostela. Damit ist der Jakobsweg eine einzigartige Erscheinung in der Geschichte. Goethe behauptete, ,,Europa wurde auf Pilgerfahrten nach Compostela gebaut“, und so wundert es nicht, dass der Europarat bei der Festlegung der Grundlinien der Europäischen Kulturwege die spirituelle, historische und kulturelle Bedeutung des Jakobswegs nach Santiago mit als das Innerste unserer gemeinsamen Identität auffasst. Dabei wird die Bedeutung der Alternativrouten, der Neben- und Seewege ebenfalls anerkannt als ein gemeinsamer Raum für die kulturelle Wesenseinheit Europas.

Urkundlich erwähnt wird der Jakobsweg das erste Mal im Jahre 1047 in einer Niederschrift des Hospitals von Arconda in Palencia als „der Weg, der seit alten Zeiten von Pilgern des hl. Jakobus und Peter und Paul begangen“ wird bezeichnet. Damit wird der Camino de Santiago nachweislich mit dem Grab des heiligen Jakobus in Galicien in Verbindung gebracht jene hochmittelalterliche Hauptverkehrsachse Nordspaniens, die von den Pyrenaen zum Jakobsgrab führte und die Königsstädte, Pamplona, Estella, Burgos und León noch heute miteinander verbindet.
Fragt man einen Spanier wo der Jakobsweg beginnt, so erhält man die Antwort: „El camino comienza en su casa“ „Der Weg beginnt in Ihrem Haus“. und so ist der Jakobsweg weit mehr als eine Straße, die durch ein Land führt sondern primär die Idee dem eigenen Ich zu begegnen und das wesentliche Ziel in seinem Leben zu finden. Lange war man der Auffassung das die Pilgerwege keinen vorgegebenen Weg hatten. Erst im Mittelalter begegnen wir festgelegten Routen, die für die Betreuung der Pilger von Bedeutung waren. Neben den Klöstern und Kirchen entstanden Herbergen, Hospitäler, und Gasthäuser. So bedeutete der Pilgerstrom für die Orte entlang der Straßen auch einen wirtschaftlichen Wohlstand.

In den vergangenen Jahrhunderten waren es zweifelsfrei religiöse Wallfahrten nach Compostela, die den Zustrom ausmachten. Was aber veranlasst heute Millionen Menschen, diesen Weg zu gehen? Was ist das Besondere? Sind es die kulturellen Sehenswürdigkeiten, die überall am Wegesrand den Wanderer faszinieren? Die liebliche Landschaft des grünen Spaniens? Die süffigen Weine und die wohlschmeckenden Genüsse der Gastronomie, die mit herzlicher Gastlichkeit dem Fremden dargeboten werden? Oder ist es wirklich die Pilgerfahrt, die den Menschen anspricht und deren Geboten er sich unterwirft. Das zu erfahren, machten wir uns auf.

Wir wählten den Weg von Roncesvalles aus, der über Pamplona nach Puente la Reina führt, dem Ort, wo sich die beiden Hauptwallfahrtswege – von den pyrenäischen Bergpässen lbaneta und Somport – treffen. Rund 800 lange Kilometer liegen vor dem Wanderer und wollen zurückgelegt werden. Früher war es selbstverständlich, dass man den ganzen langen Weg zu Fuß ging. Nur sehr Reiche konnten sich ja ein Pferd erlauben. Außerdem hatten die meisten Pilger ein Gelöbnis abgelegt oder waren als Sühne auf dem Jakobsweg unterwegs. Wer bis Santiago gepilgert war, dem wurden seine Sünden vergeben. Und damit keiner der Pilger schummeln konnte, bekam er einen Pilgerausweis, der am Ende seine Reise bestätigte.

Auch heute gibt es diesen Ausweis, und nur wer genügend Stempel hat, bekommt in Santiago den Nachweis, dass er den Jakobsweg gegangen ist. Dabei muss jeder Pilger sein Gepäck selbst tragen. Erst in den letzten Jahren wird auch anerkannt, wer mit dem Fahrrad fährt oder reitet. Wer dagegen mit dem Auto fährt, gilt nicht als Wallfahrer, auch wenn es immer wieder passiert, dass der Wagen in einiger Entfernung geparkt und nur die letzten Meter zum Pilgerbüro zu Fuß gegangen werden.

Legenden und Geschichten umranken den Jakobsweg. Eine der schönsten finden wir in Santo mingo de la Calzada. Es ist das Wunder des Hahns und der Henne. Unter den vielen Pilgern, die nach Santiago de Compostela unterwegs waren, befand sich auch ein Ehepaar mit seinem achtzehnjährigen Sohn Hugonell. Sie waren von Ad Sanctos (=Xanten am Niederrhein) gekommen, um die Reliquien des Heiligen Domingo de la Calzada zu verehren. Die Tochter des Herbergswirts verliebte sich in den jungen Hugonell. Der aber fand keinen Gefallen an dem Mädchen, das nun wütend über seine Ablehnung Rache schwor. Sie versteckte einen silbernen Becher in seinem Gepäck, und als die Pilger weitergezogen waren, zeigte sie den „Raub“ beim Stadtrichter an. In Spanien galt zu dieser Zeit noch das Gesetz von Alfons X., das für einen Diebstahl die Todesstrafe bestimmte, und so wurde der unschuldige Junge aufgehängt. Die verzweifelten Eltern wollten ihren Sohn noch einmal sehen, und gingen zu der Hinrichtungsstätte. Dort hörten sie die Stimme ihres Sohnes seine Unschuld beteuern und sagten, dass der heilige Domingo ihn am Leben erhalten habe. Die Eltern liefen in die Stadt zurück und suchten den Richter auf. Sie erzählten, was geschehen war. Ungläubig antwortete der Stadtrichter „dass ihr Sohn so lebendig sei wie der gebratene Hahn und die gebratene Henne da, die auf dem Tisch liegen“. Genau in diesem Augenblick sprangen der Hahn und die Henne mit lautem Kikeriki und Gegacker von seinem Tisch.
Zum Andenken an diese Geschichte werden heute noch in der Kathedrale ein lebender weißer Hahn und eine Henne gehalten. Sie werden von Bauern aus der Umgebung gespendet und monatlich ausgewechselt.

Durch Burgos führt die Pilgerstraße an der Kirche San Nicolas vorbei. Hier treffen wir vor der Pilgerherberge Franz. An seinen Pilgerhut hat er unübersehbar die Jakobsmuschel befestigt, das Zeichen der Pilger. Franz kommt aus Belgien und ist den ganzen langen Weg zu Fuß gegangen.
,,Das ist gar nichts“, lacht er, „ich habe Leute getroffen, die sind von Basel aus gestartet oder von Holland aus. Das ist nicht so schwer, es ist nur die Zeit, die man braucht.“
„Und wie lange sind Sie schon unterwegs?“ fragen wir ihn.
,,Seit vier Monaten!“
Wir wollen wissen, warum Franz diese Pilgerfahrt macht, aus religiösen Gründen oder nur, um all die vielen Sehenswürdigkeiten kennenzulernen.
,,Es ist beides. Es ist religiös, kulturell, auch philosophisch, es ist eine Linie meines Lebens. Bei mir ist es auch das Ende des Lebens, in dem ich gearbeitet habe. Dieser Weg bedeutet so viel, und man macht ihn nur einmal, man kann das nicht beschreiben.“
Und warum ausgerechnet dieser Weg, der Jakobsweg? Warum keine andere Wanderstrecke?
„Es ist so viel Geschichte darin. Und er ist vorzüglich organisiert. Natürlich, man kann auch nach Assisi oder Rom gehen …“
„Sind Sie ganz alleine, oder gehen Sie in einer Gruppe?“
„Ganz alleine. Aber wir treffen uns in den Herbergen. Jeder hat seinen eigenen Rhythmus, den er beim Laufen entwickelt. So geht jeder für sich.“
„Glauben Sie, dass sich etwas durch dieses Erlebnis für Sie  verändert?“
„Ja. Aber ich glaube, dass der Weg erst anfängt, wenn ich am Ziel bin. Das heißt, wenn ich Compostela erreicht habe und wieder im täglichen Leben zurück bin, dann weiß ich, was sich verändert hat, was ich erfahren habe und wie ich dann weitergehe. Eines ist sicher, jetzt lernt man zu leben mit dem, was wirklich wichtig ist und all der Rest ist nichts.“
„Und was ist wirklich wichtig für Sie?“
,Alles Materielle ist unwichtig: Ein Haus, ein Wagen …“
„Was haben Sie beruflich gemacht?“
,,Ich bin Elektronik- und Informatikingenieur.“
„War Ihre Familie denn damit einverstanden, dass Sie so lange weggegangen sind?“
,,Ja, sie waren damit einverstanden. Man macht es doch wahrscheinlich nur einmal im Leben. Jeder Mensch sucht irgendwann einmal seinen „Lebens-ist-Zustand“, das ist wichtig für den Rest seines Lebens, für das Zusammenleben mit der Familie. Was sind da vier Monate? Das ist nun einmal so. Für die Leute, die von noch weiter kommen, ist es ja noch viel länger. Ich habe von einem der Pilger gehört, dass er über ein Jahr unterwegs ist.“
„Und werden Sie auch den Weg zu Fuß zurückgehen?“
,,Nein. Ich weiß noch nicht, wie ich zurückkomme, wahrscheinlich mit dem Zug. Das dauert auch noch mal drei Tage. Das ist Zeit, die ich brauche, um wieder in die normale Welt einzutauchen. Mit dem Flugzeug, das ist einfach zu schnell.“

Man trifft sich in den Pilgerherbergen, in denen die Wanderer zu einer geringen Gebühr, manchmal sogar kostenlos, übernachten können. Hier werden Erfahrungen ausgetauscht, Verabredungen getroffen und Freundschaften geschlossen, denn die meisten der Wanderer gehen von einer Herberge bis zur nächsten, so dass eine lose Gruppe entsteht, die immer wieder auf dem Weg zusammentrifft. Gegangen wird nach der eigenen Kondition von 15 bis zu 40 Kilometern pro Tag. Der Pilgerweg ist gut ausgebaut und führt meistens durch landschaftlich schönes Gebiet. Aber auch die Städte mit ihren Kathedralen und kulturellen Sehenswürdigkeiten werden nicht umgangen.

 

Über Sahagun, eine der kunstgeschichtlich bedeutendsten Städte, führt der Weg weiter über Leon, Astorga nach Villafranca del Bierzo, der letzten Etappe, bevor es über den Gebirgspass Piedrafita del Cebreiro nach Santiago de Compostela geht. Immer wieder begegnen wir den Pilgern. Sie kommen aus allen Gegenden Europas, aber auch von Übersee, und es sind alle Altersgruppen vertreten. Die meisten wandern, wie in alten Zeiten, mit ihrem Gepäck auf dem Rücken. Unterwegs macht man Rast, setzt sich zueinander und spricht miteinander.
Die drei Brüder Jose, Pedro und Manuel sind mit ihrem Eselskarren vom Süden Spaniens aus losgegangen. Jose, der ein Bein verlor, hat die Erlaubnis, im Wagen zu fahren. ,,Aber nur,“ so lacht er, ,,wenn es unbedingt nötig ist.“Ein junges Pärchen, das wir treffen, erzählt uns, dass sie noch nicht wüssten, ob sie wirklich ein Leben lang zusammen bleiben wollen. ,,Das wissen wir aber sicher, wenn wir da sind.“ Und dabei lachen sie sich an.

Das Ziel ist für alle gleich: Santiago de Compostela. Hier vor der Kathedrale treffen sie sich, die gemeinsam den Weg gegangen sind, zu dem großen Pilgergottesdienst. Auch wir sind dabei, die „Pseudopilger“, die sich auf den Weg keinesfalls eingelassen hatten. Deren Bus immer brav zur Stelle war, wenn die Straße zu lang, zu steinig oder einfach die Zeit zu knapp war. Und die auch jetzt, bei dem großen Spektakel, etwas distanziert sind. Die dunkle Kirche ist gefüllt mit andächtigen Menschen, die aufmerksam der Liturgie zuhören. Endlich wird der überdimensional große silberne Weihrauchkessel quer durch das Gotteshaus geschwenkt. Sechs Kirchendiener hängen sich dazu in die Seile. Ein imposantes Bild, auch wenn man weiß, dass im Mittelalter Weihrauch als Desinfektionsmittel für die vielen erschöpften und manchmal auch sehr heruntergekommenen Pilger benutzt wurde. Ein Foto noch, zu dem die Pilger vorne zum Weihrauchkessel eilen. Dann leert sich die Kirche, der Gottesdienst ist vorbei. Es wird still. Wir stehen von unseren Plätzen auf, um die Kathedrale zu verlassen. Wir sind am Ziel. Der Jakobsweg ist zu Ende. Als wir auf das Kirchenprotal zugehen, wird es geöffnet. Die Strahlen der Sonne dringen von draußen in die Dunkelheit des Kirchenschiffes. Und dann erhebt ein Pilgerchor aus der Nähe von Stuttgart seine Stimme:

„Großer Gott wir loben dich,
Herr, wir preisen deine Stärke,
vor dir neigt die Erde sich und bewundert deine Werke,
wie du warst in aller Zeit,
so bleibst du in Ewigkeit.“

Text und Fotos: Hedda Schatz

 

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