Als ich studierte, waren Engel kein Thema. Nicht einmal bei Theologen. Heute möchte man sagen: Engel sind das Thema! Zumindest unter religiös interessierten und empfänglichen Zeitgenossen wird oft über Engel gesprochen. Und in den Buchhandlungen häufen sich Bücher über Engel und Geister. Auch an Tagungen und Workshops zum Thema „Engel“ fehlt es wahrhaftig nicht.
Mir ist bei diesem Überangebot oft nicht ganz wohl. Gewiss, ich liebe die Engel, diese wunderbaren Gottesboten (So heißt „Engel“ wörtlich übersetzt), und ich freue mich, wenn ich sehe, dass unsere Zeit die Engel neu entdeckt hat. Aber mir graut vor den (meist selbsternannten) Engelexpertinnen und Engelexperten. Das viele Wissen, das sie zur Schau stellen, die Sicherheit, mit der sie dieses Wissen ausbreiten, ist mir zutiefst suspekt.
Wer sagt, er kenne die Engel, kennt sie in Wirklichkeit nicht. Wer die Engel wirklich kennt, der schweigt, oder er redet nur sehr zögernd, langsam, behutsam, gleichsam mit schwerer Stimme und jedenfalls ehrfurchtsvoll.
Wer sich an das Thema Engel heranwagt, sei es nun schreibend oder redend, lesend oder hörend, sollte zuerst das Wort hören, das Mose vor dem brennenden Dornbusch vernahm: „Ziehe deine Schuhe aus, denn der Boden auf dem du stehst ist heilig!“ Und er sollte sich dieses Wort zu Herzen nehmen, sollte es beherzigen, denn dem neugierigen, ehrfurchtslosen Wissen wollen entziehen sich die Engel allemal, und zwar auf der Stelle. Sie scheuen das Licht der Scheinwerfer und meiden die Kameras, und in aufgeregten Talkshows hat man sie noch nie gesehen.
Es war im Kloster Münsterschwarzach. Ich hatte mich im Klosterladen umgeschaut. Ich hätte gerne länger dort verweilt, aber ich hatte noch eine lange Reise vor mir. Ich sagte dies dem gütigen Mönch, der den Klosterladen führt. Darauf entgegnete mir der Bruder: „Dann möge Raphael Sie geleiten!“
Raphael? Im Nu fiel sie mir ein, die alte biblische Geschichte von Tobias und seiner großen Reise, die er im Auftrag seines Vaters machen sollte. Eine Geschichte aus der Bibel – das muss ich präzisieren. Katholische Leser werden das Buch Tobias oder Tobit in ihrer Bibel finden, evangelische Leser allerdings nur, wenn sie eine Bibel „mit Apokryphen“ haben, denn das Buch Tobi gehört nach Martin Luthers Urteil zu den apokryphen Schriften, die zwar „nützlich und erbaulich zu lesen“ sind, aber keinen kanonischen Rang haben.
Es ist eine in Wahrheit wunderbare Geschichte. Der alte Tobias ist ein frommer Jude, der auch in der Verbannung, im fremden fernen Lande treu am Glauben seiner Väter festhält. Der also schickt seinen Sohn Tobias nach Medien, eine lange, gefährliche Reise. Dort soll er bei einem gewissen Gabael Geld eintreiben, das der Vater diesem vor langer Zeit geliehen hatte. Der junge Tobias fürchtet sich vor dem gefährlichen Unternehmen, aber dann „findet“ er einen tüchtigen Begleiter, „einen feinen jungen Gesellen“, wie es in Luthers Übersetzung heißt (Tobias 5,5). Aber schon hier hören wir, dass es sich bei dem fremden jungen Mann um einen Engel Gottes handelt. Aber das wissen am Anfang weder der Vater noch der Sohn, und es klingt entsprechend merkwürdig, wenn der alte Tobias die beiden mit den Worten verabschiedet: „So ziehet hin! Gott sei mit euch auf dem Wege, und sein Engel geleite euch!“(5,23)
Wer die gut erzählte Geschichte weiter liest, wird manches erfahren, was wir Menschen offenbar von solchen von Gott selbst gesandten Reisebegleitern erwarten dürfen. Drei kleine Beobachtungen seien hier herausgegriffen.
- Der Engel Gottes kennt den Weg. Er ist im wahrsten Sinn des Wortes „erfahren“. Dabei sollten wir nun allerdings nicht an eine Art himmlischen Navigator denken, ein übernatürliches GPS-System, das den Reisenden in Sicherheit an Ziel kommen lässt, so dass er auf Kompass und Landkarte getrost verzichten kann. Alle unsere Reisen, alle unsere Wege sind Spiegelbild eines ganz anderen Weges, den wir alle gehen: des inneren Weges, des lebenslangen Reifungsprozesses, in dem wir zu dem werden, der oder die wir werden sollen. Es ist der Weg zu unserer uns mit unserer Zeugung gegebenen Bestimmung. Wer diesen Weg bewusst geht, weiß, dass es sich um einen gefährlichen Weg handelt. Irrtum, Verführung und Versuchung lauern hier und da. Und doch muss ich mich nicht fürchten oder gar die Reise aufgeben, denn mein Engel kennt den Weg. Heimlich spricht er in meinem Inneren und dirigiert meine Schritte; er ermuntert mich, wenn ich ermüde, und bringt mich sicher ans Ziel.
- So ist der Engel Gottes auch ein treuer Helfer, der mich gegen Gefahren jedweder Art beschützt. In der Tobias-Erzählung droht ein großer Fisch, der den jungen Tobias beim Baden anfällt. Von seinem göttlichen Begleiter empfängt er den Rat, der ihm das Leben rettet (Kapitel 6,1ff.).
- Vor allem aber erweist sich Tobias’ treuer Begleiter als Heilkundiger. Dies deutet übrigens schon sein Name an, denn Raphael heißt auf Hebräisch „Gott heilt“. Er versteht es Arzneien zu bereiten, sogar aus dem, was eben noch tödliche Bedrohung war, aus Herz, Galle und Leber des großen Fischs. Er bewährt seine Heilkunst dann in zweifacher Weise: dem alten Tobias, der seit Jahren erblindet war, gibt er die Sehkraft zurück. Und Sara, die unglückliche Tochter Gabaels, die der junge Tobias zur Gattin bekommen soll, heilt er von einem grässlichen Seelenleiden. Siebenmal war sie bereits verheiratet worden, aber jedes Mal hatten böse Geister in der Hochzeitsnacht den unglücklichen Bräutigam getötet. Doch Raphaels Kunst ist stärker als die bösen Mächte, und so wird der junge Tobias davor bewahrt in der Hochzeitsnacht das gleiche Schicksal zu erleiden.
In allen diesen Begebenheiten aber bewahrt der Gottesbote sein Inkognito. Nichts an ihm scheint übernatürlich, nichts davon bringt den jungen Mann auf die Idee, dass ihn ein Engel begleitet. So ist es denn auch ganz natürlich, dass die beiden sich wechselseitig mit „Bruder“ anreden, der Engel den jungen Tobias (6,18; 11,2) und Tobias den Engel (9,1). Erst am Ende der Geschichte lüftet der Engel das Geheimnis. Er gibt sich zu erkennen als der, der er eigentlich ist, Raphael, ein Gottesbote. Aber, und das ist wichtig, kaum dass der Engel sich zu erkennen gegeben hat, ist er auch schon verschwunden (12,19). Und was bleibt? Nicht ein Wissen über Engel, nicht eine Dokumentation, die zur Nachprüfung einlädt, kein Foto und kein Tonband. Es gibt auch keine Methode, die es in Zukunft leichter machen wird, den begleitenden Engel gleich am Anfang zu identifizieren. Immer wird es so sein, dass wir ihnen eigentlich nur nachblicken können. Ihre Spuren mögen wir entdecken, sie selbst nicht. Das einzige, was bleibt, ist eine kostbare Erinnerung. Aber eine kostbare Erinnerung ist mehr als jedes Foto und jedes Beweisstück. Denn solche Erinnerungen sind unzerstörbar.
Engel wissen viel, sie wissen mehr als Menschen. Aber sie wissen nicht alles. Engel können viel, sie können mehr als Menschen. Aber sie können nicht alles. Wüssten sie alles oder könnten sie alles, dann würden wir in ihnen wohl nicht unsere Brüder und Schwestern erkennen, wie es der junge Tobias tat. Wer mit den Engeln Vorstellungen von Allmacht und Allwissenheit verbindet, denkt und lebt an der Realität vorbei. Wer aber an dieser Stelle sagen möchte: „Alles oder nichts!“, beraubt sich selbst der schönsten Erfahrungen, die ein Mensch in seinem Leben machen kann. Halten wir den Schmerz aus, der in uns jedes Mal entsteht, wenn wir die Erfahrung schweren Unglücks machen und dabei feststellen müssen, dass da offenbar kein schützender Gottesengel war, der das Unheil verhindern konnte. Aber mir ist noch niemand begegnet, der nicht von wenigstens einer Begebenheit aus seinem Leben erzählen konnte, da er oder sie „wie durch ein Wunder“ in schwerer Gefahr bewahrt wurde. Wie durch ein Wunder? Nicht wie durch ein Wunder, sondern durch ein Wunder, durch das wunderbare Tun der guten Mächte, die uns auf unserer Lebensreise freundlich begleiten und geleiten.
So möchte ich allen meinen Leserinnen und Lesern auf Ihren Wegen wünschen, was mir der gütige Mönch im Klosterladen zu Münsterschwarzbach gewünscht hat: “Möge Raphael Sie freundlich geleiten!“
Anm.: Das Tobitbuch ist in den alten Handschriften in mehr als nur einer Fassung überliefert. Daraus ergeben sich die Unterschiede zwischen der Textfassung, wie sie beispielsweise die Einheitsübersetzung bietet, und dem Text, den wir in der Lutherbibel (Apokryphen) finden. Reinhard Deichgräber